SOPHIE SCHOLL, DIE WEISSE ROSE, PATRIOTISCHER WIDERSTAND,
NEUE HORIZONTE und allgemeine Rahmensprengung.

 

Nach DER UNTERGANG und NAPOLA noch einmal deutsche Vergangenheit fürs CINEMA. SOPHIE SCHOLL. Auch hier erweist es sich als gut und wichtig, daß Deutschland die filmische Aufarbeitung seiner Vergangenheit selbst betreibt und keinen Schritt weiter mehr dem Zufall der amerikanischen Sichtweise überläßt. Hollywood wäre nicht Hollywood, wenn man dort der Wahrheit den Vorrang gäbe und die Kunstfertigkeit, Illusionen zu erzeugen, ist eher propagandistischer Natur, als etwa echte Geschichtsschreibung fördern zu wollen, auch wenn Lügen zur Wahrheit und Wahrheiten wieder Lüge werden, laut ORWELL. Zum neuen Selbstbewußtsein hat sich der deutsche Film mit dem Fußball den Weg freigeschossen, und die Eisen packen sich besser an, seit kein Regisseur mehr mit Glacéhandschuhen arbeitet. SOPHIE SCHOLL zeichnet authentische Bilder - der Einstieg in die Thematik wird mit keinerlei Mainstreamschmiere erzwungen. Man fühlt sich ein, statt von Sentimentalitäten getragen zu werden. Mitfühlen wird möglich, weil der Film an keine Krokodilstränen appelliert, sondern ins Eingemachte trifft. Der Wert des Zelluloids liegt mit darin, inwieweit sein Stoff uns eine Zeitreise ermöglicht, den Einstieg in eine Matrix, aus welcher wir zurückkehrend keine falschen Schlüsse mehr ziehen und keine dummen Fragen mehr stellen. Die Frage, die nicht mehr erhört wird, und auf die keine Antwort mehr gegeben wird, ist die Frage nach dem WIE und WARUM des Dritten Reiches. Eine Frage, die viel gestriger ist als ein Naziaufmarsch. Die Fragezeichen der Zeit sind so zu beantworten, wie man Gordische Knoten löst - nicht mit pädagogischem Geschick, sondern mit dem Mut brachialer Direktheit. Der zeitgeschichtliche Schönheitsfehler, der zur Thematik der Geschwister SCHOLL und der WEISSEN ROSE trotzdem auch hier wieder schwelend zum Tragen kommt, ist der verkehrte Eindruck, die WEISSE ROSE sei ein ANTIFA- Vorläufer gewesen. So ein bißchen wird halt immer noch passend gemacht, was eigentlich nicht passen will. Die Begleitsendungen im Fernsehen mit ihren dokumentarischen Versatzstücken, Interviews und Spurensuchen klammerten allzugerne den unbequemen Part der WEISSEN ROSE aus - meinen im ehemals benachbarten Hessen lebenden Sangesfreund Hans HIRZEL, der nach zeitgeistigem Urteil auch als mittlerweile ex- Republikaner ein Rechtsradikaler ist und zum Thema WEISSE ROSE gerne mal übergangen wird. Ein Widerstandskämpfer, so scheint das ungeschriebene Gesetz zu lauten, muß grundsätzlich links sein, aber schon Claus WOLFSCHLAGS Buch "HITLERS RECHTE GEGNER" zur Mitte der 90er Jahre hat in dieser Richtung doch einiges deutlich werden lassen. Aber man möchte dem Publikum eben nicht zuviel zumuten - gewisse Sachverhalte scheinen, einer ungeschriebenen Doktrin nach, streng in schwarz und weiß, gut und böse unterschieden werden zu müssen. Die Vertreter der neuen Flexibilität, die die Fünfe aus ihrer weltoffenen Lockerheit immer öfter gerade sein lassen, und Bi- und Homosexualität neben oder über den Normalzustand stellen, weil wir doch flexibel, beweglich und locker sein sollen, bleiben dann aber hinter ihren Lockerungsansprüchen zurück, wenn es darum geht zu begreifen, daß ein Widerstandskämpfer nicht prinzipiell links sein muß, oder ein Nazi nicht grundsätzlich böse, und ein KZ- Häftling nicht automatisch gut. Ich komme später noch einmal expliziter darauf zurück. Ich hatte noch nicht die Zeit, mit Hans HIRZEL (WEISSE ROSE- Mitglied) über den neuesten deutschen Filmversuch zur WEISSEN ROSE zu sprechen, kenne noch nicht seine Meinung, aber ich könnte mir denken, daß der PATRIOTISMUS, welcher in der WEISSEN ROSE vorherrschte, ihm auch in diesem Film in gewohnter Weise zu kurz kam. DIE WEISSE ROSE war keine ANTIFA- Gruppierung, und die jungen Rekruten, die ihr angehörten, waren keine Pazifisten im heutigen Sinne, genausowenig, wie Graf Claus von STAUFFENBERG ein Demokrat war. Dennoch ist SOPHIE SCHOLL ein guter und wichtiger Film auf dem Weg zur deutschen Wahrheitsfindung geworden. Wir betrachten uns im Spiegel der Zeit mit immer weniger Verzerrung, und jeder wirklich konstruktiv echte Rechte weiß, daß die Hinrichtung der Geschwister SCHOLL keine Fiktion, keine Propagandalüge auf der einen und andererseits kein deutsches Ruhmesblatt ist. An Roland FREISLER gibt es kaum etwas schön zu reden, und der ordnungshütende Gymnasial-Hausmeister gibt stellvertretend für die Blockwarte, Denunzianten und buchstabentreuen NS- Pharisäer der Zeit gleichfalls kein gutes, aber wirklichkeitsnahes Bild ab. Trotzdem, die schweigende Mehrheit von damals erscheint mir im Ganzen angenehmer als die Masse der Zivilcouragierten von heute, die ja in ihrer Zivilcouragiertheit nicht den Ansatz eines Risikos eingehen. Die schicken Mäntel der Gestapo täuschen nicht hinweg über die Vorgehens- und Operationsweise ihrer unterkühlten Träger. (Stasi, Mossad und CIA lassen in ihrer Arbeitsweise verwandtschaftlich grüßen.) Aber die Widerstandskämpfer und Zivilcouragisten von heute, die begreifen eines nicht, daß nämlich sie die potentiellen Erben der Blockwarte und Hausmeister und Denunzianten sind - und niemand anders. Ich will gar nicht mehr aus meinem eigenen Erfahrungsschatz mehr zitieren, aber ich beobachte und beziehe auch aus meinem Umfeld gerne die Geschehnisse mit ein. So empfinde ich die Freundschaftlichkeit der normalsterblichen Durchschnittsbevölkerung grundsätzlich als genauso oberflächlich wie flach und immer in eng verwandter Beziehung zum hauchdünnen Eis ihrer Menschlichkeit stehend. Ich brauche in der Regel 35 Sekunden, um diese stereotypen Vertreter für mich einzuordnen und weiß auch immer, daß ihr gutes Bild von mir und all die Sympathie, die man mir entgegen bringt, weder einer Prüfung standhält, noch einen ideellen Nährwert für mich aufweist. Es langweilt, diesen Menschen hier und da begegnen zu müssen, oder nur einen Tisch mit ihnen zu teilen, geschweige denn mit ihnen zu reden, auf flachem, beliebigem Niveau. Nach dem Schockmoment der Wahrheit, über die sie über kurz oder lang stolpern, ziehen sie mit der Freundschaftsbremse sehr häufig auch das Register der Zivilcourage. Erzähl mir keiner was von jahrelangen Freundschaften sei niemand verwundert. Die Jahre der Freundschaft sind dehnbar, aber die Substanzen geben selten etwas her, wo Freundschaft die Gelegenheit hätte, sich zu beweisen. Die gestrige Nettigkeit des Durchschnittsmenschen hat ein jähes Ende, wenn es braunen Alarm schlägt. Anders als der rabiate Blockwart von damals um die Ecke, ist der gute Mensch von heute viel sensibler und, im Vergleich seiner Kriegsführung oder seiner Mission, fast schon zart besaitet, aber gnadenlos. Wenn solche Leute in einen SOPHIE SCHOLL- Film gehen, dann sind sie sensibilisiert für die Splitter in den Augen ihrer Mitmenschen, aber unfähig zum Erkennen der Balken in den eigenen Augen. Sie denken, oh ja, man muß Widerstand leisten, aber ihr Potential reicht nur zur Denunziation und einer wöchentlichen Aussprache beim Psychologen. Manchmal meine ich, Gemeinsamkeiten zwischen heutigem Rechtsradikalismus und der momentanen Widerstandskultur zu entdecken. Beides kann bisweilen sehr angestrengt gewollt erscheinen. Zurück zu den Geschwistern SCHOLL und ein paar Zeilen eines Freundes, die hier sofort miteinbezogen werden, weil nicht nur die Wahrheit, sondern auch das Leben nur noch aus Fragmenten besteht, die allesamt ihren Beitrag zur Rundung der Welt leisten möchten. Auch der (in gekonnter Weise) Schreiber der folgenden Zeilen versteht sich als rechtsradikal und hat im Brennpunkt Berlin schon reichlich Fronterfahrung sammeln dürfen:
"... weil ich Dir sagen wollte, wie sehr mich die Briefe und Aufzeichnungen von Hans und Sophie Scholl beeindruckt haben - eine Ausgabe des S. Fischer Verlages von 1984 gebunden - beide waren ja auch christlich, Aufzeichnungen von einer derartigen Tiefe, daß sie auch Dir garantiert von Gewinn wären, wenn Du sie nicht ohnehin schon kennst. Auch die Gesichter der beiden sind gute Gesichter. ... Ich käme nicht im Traum auf den Gedanken, mir ein Buch von B. Brecht oder ähnl. zu besorgen, weil von vorn herein eine Distanz vorhanden ist. Oder nimm die Gesichter von Stalin oder Honecker, einfach nicht interessant. Und so schreiben diese Burschen ja auch - theoretisches Kauderwelsch. Zur Zeit lese ich die Aufzeichnungen von Willi Graf "WEISSE ROSE", der durch seine Ausstrahlung mein Interesse geweckt hat. Auch ein Christ, der gute Gedanken hat, ein Patriot in jedem Fall, wenn viell. auch nicht ganz so interessant wie Hans Scholl. ...Übrigens, die Flugblätter der Weissen Rose haben ja auch ihre Tücken, weil es natürlich sehr fragwürdig ist, zur Sabotage in Rüstungsbetrieben aufzurufen. Selbst wenn ich kein Freund von A.H. und seinen Kriegsentscheidungen (Rußland) bin, so mußte (dann) der Krieg dennoch gewonnen werden, weil es den Alliierten nicht um Hitler, sondern die Vernichtung Deutschlands ging . ..." M.T. aus B.
Auf zukunftsträchtigem Terrain steht der konstruktiv Rechte oder richtungsweisende Rechtsradikale nur dann, wenn er sich erlaubt, die tatsächlich von Deutschen begangenen Verbrechen als solche genauso offen in Betracht zu ziehen, wie man es von der gegnerischen Seite im umgekehrten Sinne verlangt. Der rigorose SS-Befehlshaber, der kurz vor der Stunde Null noch auffällig gewordene Zivilisten liquidiert, weil viele Zivilisten mit dem System ihrer Kräfte und Nerven schon vor der Stunde Null am Ende waren, muß weder entschuldigt noch verteidigt werden. Die verbrannte Erde, die eine Führung nach ihrem Abgang hinterläßt, steht dem eigenen Volk, das man zurückläßt, immer noch näher, als den fremden Truppen, die im Begriff sind, es zu besetzen. Und auf der Nürnberger Anklagebank saßen nicht unbedingt Märtyrer oder Heilige, aber auch nicht nur Kriegsverbrecher und Unmenschen. Für den Linken war Opa böse, weil er bei der SS war. Aus Sicht des Nazis war Opa deswegen gut. Aber in Wirklichkeit war es nicht Opas SS- Zugehörigkeit, die ihn gut oder böse macht. Beide Parteien müßten, um Opa wirklich gerecht zu werden, die SS beiseite lassen, und Opa als Mensch und Wesen suchen und finden lernen, und erst dann läßt sich die Spur weiter verfolgen, ob Opa als SS-Mann ein Mensch oder Unmensch war. Die Stagnation auf beiden Seiten muß gebrochen werden, der Rechtsradikale als Tyrannosaurus Rex hat den Anschluß an die Gesetze des Lebens genauso verpaßt wie der Linke als Nestbeschmutzer. Beide Typen sind Auslaufmodelle ohne Zukunft, beide Modelle haben kein Herz, auch wenn der eine von VATERLANDSLIEBE und der andre von Menschheitsidealen spricht. Aber es nutzt rein gar nichts, das Vaterland zu lieben oder die multikulturelle Menschheit zu predigen, wenn wir vor allem nicht erst das Prinzip der Wahrheit lieben lernen. Der Mut zur Wahrheit, der Mut, die Dinge zu sehen, wie sie sind, ist entscheidend, und zwar sowohl für den linken Propagandisten als auch für den sogenannten Nazi. Zwischen der Behauptung, daß die Großväter Verbrecher waren und der Behauptung, daß sie keine Verbrecher waren, liegt der Hund begraben. Wenn der linke Aktivist erst einmal zur Kenntnis nehmen möchte, daß kein Volk, keine Waffengattung, keine Großvätergeneration sich über einen mörderischen Kamm scheren läßt, und ein Nazi bekennt, daß es trotz vieler soldatischer Vorbildlichkeiten zu unzähligen Schweinereien und menschlichen Verfehlungen kam, ohne diese entschuldigen zu wollen, dann bricht ein Stück weit ideologisches Eis, das soviel noch gefroren hält. Wer die Menschen und das Leben für sich gewinnen möchte, muß den Mut haben, aus seiner ideologischen Deckung herauszutreten und Mensch werden, weg von der Eiszeit, die auch einen Dinosaurier erstarren läßt, raus aus dem Schutzpanzer all der Härten, in die man sich flüchtete, um die Schläge des Lebens ertragen zu können. Das rechte Gedankengut, das es noch wert ist, weitergetragen zu werden, die Essenz all dessen, was es zu transportieren gilt, nach Abzug der Schlacke, die zurückbleiben darf und muß, kann nur mitten durch das Leben getragen werden. Niemand hat mehr auf verlorenem Posten zu verharren und zu erfrieren, oder vergeblich auf einen Befehl von oben zu warten, der aber nicht kommt, weil der Befehl ein innerer sein muß und lautet, daß man vor dem Land, der Heimat, die man sich zurückerobern möchte, erst einmal das Leben zurückgewinnt, den Anschluß an den Fluß des Lebens. Als Dinosaurier läßt sich hier nichts gewinnen. Wenn wir nicht Mensch werden, bleiben unsere Anliegen auf der Strecke. Der Mainstream und die Etablierten werden den Patriotismus nach und nach für sich entdecken und neu definieren, und die Einwände der linken und rechten Extreme werden unerhört bleiben, weil die Erfrorenen keiner mehr hört. Wir können noch ein Jahrzehnt von draußen aus unsere Meinung vertreten und auf unseren Standpunkten verharren, wie auf dem von mir erwähnten verlorenen Posten, während aus der Mitte des Lebens und Wirkens, der Kunst, der Literatur und der Unterhaltung allmählich das immer selbstverständlicher wird, was wir der Substanz nach ja immer meinten und vertraten, aber nicht fähig waren einzubringen. In diesem Moment erstarrt der Kämpfer auf verlorenem Posten zum Denkmal der Sinnlosigkeit, zum Symbol des Opfers, das vergeblich dargebracht wurde. Der Tyrannosaurus Rex erscheint uns heute trotz seiner Größe als ein Zurückgebliebener. Peter HEPPNER mit seinem letztjährigen Lied WIR SIND WIR mag im Vergleich zur Dinosaurierhärte von 100 Deutschen Rechtsrockcombos eine Zauneidechse sein, die aber nicht gegen Wände schreit, sondern im Fluß mit sich und dem Leben mit fast zarten Tönen Menschen erreicht und in Mitten trifft. Was in besonderem Maße amerikanische und sonstige ausländische Neonazis am Dritten Reich und Adolf Hitler begeistert, ist vordergründig nicht die Idee eines nationalen Sozialismus, nicht Ehre, nicht Treue, nicht Wahrheit, sondern die ideologische Härte und die nackte Gewalt, die sie mit dem Dritten Reich assoziieren. Keine Liebe, kein Leben und eine kleine Armada verstorbener Galionsfiguren, die kein Leben mehr vermitteln und keinen gangbaren Weg mehr weisen. Meine Rechtsradikalität orientiert sich lieber an der unsterblichen Dichtung Gottfried BENNS und seinen anfänglichen Hoffnungen an den NS, als etwa an Heinrich HIMMLER, den man sich, abzüglich seiner smarten Uniform und seines Ranges, mal als direkten Vorgesetzten in einer Sparkassenfiliale vorstellen sollte. Absolut nicht richtungsweisend, aber geschäftsmännisch professionell und rechnerisch gut kalkuliert beschert uns der ARNDT Verlag ein Buch, das einem die Krise rechter Publizistik noch einmal deutlich vor Augen führt, in der Ernsthaftigkeit, mit welcher Rückschau und Hypothese ein Universum ergeben, das lange schon außerhalb unserer Dimensionen in keiner Berührung mehr mit dem Leben steht. HIMMLERS TOD, Freitod oder Mord. Die letzten Tage des Reichsführers-SS; 25,80 Euro; Arndt Verlag. Auf 325 Seiten wird hier die Hypothese breit getreten, daß HIMMLER sich nicht selbst vergiftete, sondern von den Briten umgebracht wurde. Was kann die zugrunde liegende Intention dieser Publikation sein? Wahrheitsliebe? Gerechtigkeit? Geschäft? Rückschritt? Es spielt, offen gesagt, keine wirkliche Rolle, ob HIMMLER das Zyankali sich selbst verabreicht hat, oder ob es ihm verabreicht wurde. Es ist für den weiteren Verlauf der Geschichte einfach nur unerheblich.
Bleiben wir auch zum Ende dieser Ausführung der Rahmensprengung des Schubladendenkens weiter treu und beleuchten eine Seite der politischen Opposition aus der Zeit des Nationalsozialismus, die ganz und gar nichts vorbildlich Gutes mehr aufweist. Wie schon gesagt, setze ich das, was mir an interessanten Versatzstücken im Leben unmittelbar begegnet, gerne mit dem Universum meiner Betrachtungsweisen und der Geschichtsschreibung in Bezug, und lasse es wirken - auf mich und über mich hinaus. Ich versichere, daß der folgende Text einem in Privatbesitz befindlichen Originaldokument vom 22. Juni 1947 entnommen ist, und daß ich keine Silbe daran verändert habe. Ich möchte jedoch sowohl Ankläger als auch den Beschuldigten namentlich nicht hier aufführen. Der Text soll noch einmal verdeutlichen, daß ein Oppositioneller oder KZ-Häftling nicht automatisch seiner Regimefeindlichkeit wegen ein "besserer" Mensch sein muß. Der Verfasser der Erklärung ist meiner Einschätzung und Wertschätzung nach absolut glaubwürdig. Er verbrachte die Zeit von 1940-1945 im KZ Sachsenhausen, welches er überlebte, bis er 1949 an vermutlichen Spätfolgen verstarb. Das gilt es zu begreifen, über Zeitgeistdoktrinen, Propaganda und ideologische Scheuklappen hinweg, daß Weltanschauung und politische Einstellung unabhängig sind vom Charakter eines Menschen. Es muß in der realen Welt auch gute Nazis und miese Oppositionelle geben dürfen, wenn es irgendwann primär einmal um die Wahrheit gehen sollte:

"ERKLÄRUNG

Der politische Schutzhäftling XXX war Stubenältester auf dem B-Flügel des Blockes 23 im KL-Sachsenhausen. Blockältester war, als ich auf den Block kam, der politische Schutzhäftling YYY, der im Sommer 1940 abgelöst wurde. An seine Stelle kam der pol. Schutzhäftling ZZZ, der später den Block 65 übernahm und im Jahre 1941 oder 42 entlassen wurde. Wohin ZZZ kam weiß ich nicht. Sein Vorgänger YYY, der XXX ebenfalls kannte, war nach seiner Ablösung Schreiber in der Häftlings-Bekleidungskammer des Lagers und dürfte noch unter den Lebenden weilen.
XXX übte ein sehr strenges und ungerechtes Regiment, wobei er weit über den Rahmen des üblichen hinausging. Die Zahl der Häftlinge, die von ihm mit der Faust, einem Gummischlauch oder einem Holzprügel geschlagen wurden, ist groß. Er war gefürchtet und verhaßt. Seine Neigung zu prügeln entsprang unzweifelhaft einer sadistischen Veranlagung, denn er ging in seinen Züchtigungsprozeduren weit über das eben noch erträgliche Maß hinaus und brachte seinen Opfern Wunden im Gesicht, an Händen und Rücken und auf dem Gesäß bei. Mich persönlich holte er einmal nach dem sogen. "Einfahren" aus dem "Bett" (einem Strohsacklager auf dem Boden des Schlafsaales), stellte mich im Waschraum eine halbe Stunde lang unter die eiskalte Brause und ließ mich von einem seiner Helfershelfer mit einer Wurzelbürste solange bearbeiten, bis meine Haut an mehreren Stellen blutig geschunden war. Diese Prozedur nahm XXX auch an anderen Häftlingen vor. Bei einer anderen Gelegenheit schlug er mich im Schlafsaal der Baracke mit der Faust, er traf mich dabei mehrere Male ins Gesicht. Er äußerte auch, daß er dafür sorgen werde, daß ich "über den Rost" ginge (d.h. ins Krematorium käme). Unmenschlich mißhandelt wurden von ihm ferner drei Schutzhäftlinge, ein Berliner Verleger, dessen Name mir entfallen ist, ein Württembergischer Kunstmaler namens --- und ein ehemaliger Bahnbeamter aus Danzig namens ///. Alle drei kamen später auf Transport - wohin ist mir unbekannt. Etwa im Mai 1940 wurde ein alter Russe, dessen Name mir entfallen ist, eines Brotdiebstahls verdächtigt und daraufhin von XXX so geschlagen, daß er wenige Tage später im Krankenbau des Lagers verstarb. Nachträglich stellte sich heraus, daß der Diebstahl von einem anderen Häftling begangen worden war. (...) XXX wußte natürlich sehr genau, daß der Russe den Krankenbau niemals würde lebend verlassen. Ein junger Deutscher namens >>>, der an für sich schwächlich und krank war und infolgedessen sich im sogen. Stehkommando aufhielt, wurde von XXX zu schweren Hausarbeiten herangezogen und mißhandelt. >>> fiel zusehends zusammen und konnte sich kaum noch aufrecht halten. An einem Vormittag, jedenfalls im Mai oder Juni 1940 fiel >>> im Abortraum des Blocks (wo sich das Stehkommando aufhielt) um und blieb liegen. Bald darauf erschien XXX und forderte >>> auf aufzustehen. >>> reagierte nicht. Nun versetzte ihm XXX einige Fußtritte und einen Schlag mit der Faust. Der Todkranke machte nun einige Versuche, sich zu erheben, konnte aber nicht. XXX beschäftigte sich nun in der Weise mit ihm, daß er ihn mit vorgehaltener Faust aufforderte, ein Lied zu singen. Der Kranke fing nun an, ein Lied zu lallen. XXX feuerte ihn mit Faustschlägen an, lauter und deutlicher zu singen. Der Kranke folgte. Diese ebenso widerliche als schauerliche Szene dauerte etwa 10 Minuten. In dieser Zeit wurde >>> mehrere Male von XXX mißhandelt, von der seelischen Mißhandlung, die er dem todkranken Menschen angediehen ließ, ganz zu schweigen. >>> starb noch an diesem Tag im Abortraum des Blocks. Ich überlasse es den Richtern festzustellen, ob hier der Tatbestand des Mordes erfüllt ist oder nicht. Ich wiederhole: XXX hat sich nicht wie ein politischer Häftling, sondern wie ein gemeingefährlicher Berufsverbrecher verhalten (es gab Berufsverbrecher, die weitaus besser waren als er). Er hat seine ihm verliehene Macht als Stubenältester in einer verantwortungslosen Weise ausgenützt und zahlreiche Häftlinge an Leib und Seele schwer geschädigt. (...) Abschließend möchte ich noch erwähnen, daß XXX den Insassen des B-Flügels verbot, vor Glockenschlag 10 Uhr (abends) den Abortraum des Blocks aufzusuchen. Was eine solche Anordnung bedeutet, kann der ermessen, der einmal die zu 80 Prozent aus Wasser bestehende Nahrung eines Konzentrationslagers genossen hat. Das Verbot wurde nicht begründet - wir aber wußten, daß XXX in dieser Zeit (er schlief im Tagesraum) allerlei verbotene Dinge trieb, wobei er nicht gestört werden wollte. Wer es wagte, dem Verbot zu trotzen, wurde von XXX schwerstens mißhandelt. Manchmal stellte sich XXX in der verdunkelten Baracke neben einem in der Nähe des Schlafraumeinganges stehenden Schrankes auf und wartete auf ein Opfer. Wer es wagte, den Schlafraum zu verlassen, wurde von XXX mittels eines Gummischlauchs fürchterlich geschlagen. Die Folge dieser Anordnung war 1., daß viele Häftlinge ihr Wasser nicht halten konnten und infolgedessen den Strohsack verunreinigten, was am anderen Tage zu neuen Strafmaßnahmen gegen den Übeltäter führte und 2., daß sich mehrere Häftlinge (u.a. ich) ein Blasenleiden zuzogen. Diese Angaben entsprechen der absoluten Wahrheit und können jederzeit beeidigt werden. (...)"